Ein Blick in die Zukunft der Gießerei Welt mit der Digitalisierung

Autor: Edmundo Oliveira, MSc, Forschung & Entwicklung, Fill Gesellschaft m.b.H.

Abb. 1 Produkt Entwicklung © Fill

Die Integration digitaler Werkzeuge und Methoden in der Produktentwicklungsphase ist zu einem Eckpfeiler der modernen Ingenieurspraxis geworden. Im Kontext der Gießereiindustrie, in der die Konstruktion und der Betrieb komplexer Maschinen immer höhere Anforderungen an Effizienz, Präzision und Zuverlässigkeit erfüllen müssen, stellt die Digitalisierung einen erheblichen Vorteil dar.
Traditionelle Entwicklungsansätze, hier der so genannte empirische Ansatz, der sich stark auf physische Prototypen und iterative Tests stützt, sind oft zeit- und kostenintensiv. Durch den Einsatz digitaler Technologien wie Computer-Aided Manufacturing/Modeling/Machining (CAM), Computational Fluid Dynamics (CFD), Finite Element Analysis (FEA) und Simulationstools auf Systemebene (z. B. MATLAB/Simulink) können Ingenieure ihre Produkte virtuell entwerfen, analysieren und mit einem hohen Maß an Genauigkeit optimieren, bevor ein physisches Modell gebaut wird.
Die Digitalisierung ermöglicht die Simulation realer Betriebsbedingungen, einschließlich thermischer Gradienten, Flüssigkeitsdynamik von geschmolzenem Metall, Druckschwankungen und mechanischer Belastungen. Diese Vorhersagefähigkeit verbessert nicht nur das Verständnis des Systemverhaltens unter verschiedenen Szenarien, sondern auch den Entwicklungsverlauf eines Produkts erheblich, wie in Abbildung 1 dargestellt.
Die Produktentwicklung beginnt in der Regel mit einem Kick-off-Meeting, bei dem die Anforderungen des Kunden an eine bestimmte Lösung festgelegt werden. Diese erste Phase endet mit einem vorläufigen Konzept oder einer Skizze, die die gewünschten Eigenschaften und das Aussehen des Endprodukts umreißt. Auf der Grundlage dieses Verständnisses schätzt das Entwicklungsteam einen geeigneten Weg ein, um das Konzept in ein fertiges Produkt umzuwandeln, wobei die verfügbaren Ressourcen, die technischen Beschränkungen und die Projektziele berücksichtigt werden.
Abbildung 1 veranschaulicht diesen Prozess. Die grüne Kurve stellt einen idealisierten Entwicklungsverlauf dar – einen linearen, ununterbrochenen Verlauf auf dem Weg zum Endprodukt. Die reale Entwicklung weicht jedoch oft von diesem Ideal ab. Die rosafarbene Kurve stellt einen eher empirischen Entwicklungsverlauf dar, der durch nichtlinearen Fortschritt gekennzeichnet ist. In der Praxis kommt es bei der Entwicklung häufig zu Iterationen, Rückschritten und unerwarteten Herausforderungen, die zu vorübergehenden Rückschlägen oder zur Rückkehr zu früheren Phasen führen.
Die rote Kurve in Abbildung 1 veranschaulicht einen erweiterten Entwicklungsverlauf, der durch die Digitalisierung ermöglicht wird. Durch diesen digital gesteuerten Ansatz wird die Lücke zwischen empirischem und idealem Fortschritt erheblich verkleinert. Durch den Einsatz von Tools wie Simulation, virtuelle Phototypien und digitaler Validierung wird der Entwicklungsprozess effizienter und vorhersehbarer.
Im Laufe der Jahre haben wir in enger Zusammenarbeit mit unseren Kunden die Vorteile der Digitalisierung kontinuierlich in die Entwicklungsphasen unserer Produkte integriert. Dazu gehören der Einsatz modernster digitaler Werkzeuge und die Investition in umfassende Schulungen für unsere Ingenieurteams, um eine effektive Nutzung zu gewährleisten.

Abb. 2 Schritte eines typischen Schwerkraft-Gieß-Verfahrens © Fill

Ein gutes Beispiel für diesen digital getriebenen Entwicklungsansatz ist ROBOCAST V. Die Entwicklung von ROBOCAST V zeigt, wie die Digitalisierung direkt auf die Herausforderungen der Praxis reagieren kann. Es wurde speziell entwickelt, um die wichtigsten Nachteile der drei kritischen Schritte des traditionellen Schwerkraftgießverfahrens zu überwinden, wie in Abbildung 2 dargestellt. Durch Simulation, virtuelle Validierung und digitale Zusammenarbeit wurden diese Herausforderungen während der Entwicklung systematisch analysiert und gelöst, was zu einer effizienteren und optimierten Lösung führte.

Entwicklung mit Digitalisierung in der Praxis

Die ersten Schritte der Entwicklungsphase dienen als Grundlage für alle nachfolgenden Phasen. Aus diesem Grund legen wir von Anfang an großen Wert auf die Nutzung unserer digitalen Ressourcen. Ausgehend von der ersten Konzeptskizze erstellen wir ein umfassendes digitales Modell des Produkts. Dieses Modell ermöglicht frühe Prozesssimulationen mit Visual Components®, so dass wir nicht nur die Prozesseffizienz, sondern auch die Bedienerergonomie beurteilen können.
Anschließend simulieren wir jeden Schritt des Prozesses, d. h. das Schmelzen-Ansaugen, den Transport und die Dosierung der Schmelze, um die Leistung zu bewerten und Verbesserungsmöglichkeiten zu ermitteln. Abbildung 3 zeigt eine holografische Darstellung des Produkts auf seinem Weg durch die drei in Abbildung 2 dargestellten Prozessschritte. Dieses Hologramm im Maßstab 1:1 wird in unserem Projektbesprechungsraum gezeigt, wo es mit Echtzeit-Simulationsergebnissen kombiniert wird (siehe Abbildung 4).

Abb. 3 Digitaler Zwilling © Fill


Abb. 4 Digitale Prozess-Schritte © Fill

Dieser immersive digitale Ansatz bietet eine greifbare, maßstabsgetreue Visualisierung des Endprodukts und seiner Interaktionen innerhalb des Prozesses, was die Diskussionen und die Entscheidungsfindung erheblich verbessert. Sie ermöglicht es, Designverfeinerungen schon früh in der Entwicklungsphase vorzunehmen – noch vor dem Bau eines physischen Prototyps -, was zu schnelleren Iterationszyklen und einer robusteren Endlösung führt.
Sobald die erste Entwicklungsphase klar definiert ist, beginnen wir mit dem Bau eines physischen Prototyps. Dieser Prototyp wird auf der Grundlage von Schlüsselparametern und Erkenntnissen aus dem in der vorherigen Phase entwickelten digitalen Modell gebaut. Der physische Prototyp spielt eine entscheidende Rolle bei der Validierung und Kalibrierung des digitalen Modells anhand von Daten aus der realen Welt.
Nach dieser Kalibrierung entwickelt sich das digitale Modell zu einem digitalen Zwilling – einer dynamischen, datengesteuerten Darstellung des physischen Systems. Der digitale Zwilling dient als leistungsstarkes Werkzeug für die Fortsetzung des Entwicklungsprozesses und ermöglicht virtuelle Tests, Leistungsoptimierung und prädiktive Analysen in den verbleibenden Phasen des Produktlebenszyklus.

Abb. 5 Erster Prototyp © Fill

Modellkalibrierung und -validierung mit realen Daten

Simulationsergebnisse zeigen, dass ROBOCAST V vor dem Eintritt in die Produktion (Gießverfahren) eine Vorwärmphase durchlaufen muss. Dieser Schritt ist unerlässlich, um die thermische Stabilität aller Komponenten zu gewährleisten und somit eine gleichmäßige und qualitativ hochwertige Legierungsschmelze beim Gießen zu garantieren.
Zu diesem Zweck haben wir Prozesszyklus-Simulationen durchgeführt, die sich auf das Erreichen des thermischen Gleichgewichts konzentrieren, d. h. auf den Punkt, an dem die Komponenten des Systems (z. B. der Behälter) keine wesentliche Energie mehr aus der Schmelze entziehen. Diese Simulationen ermöglichten es uns, die erforderliche Anzahl von Aufwärmzyklen zu quantifizieren, die zum Erreichen des thermischen Gleichgewichts erforderlich sind.
Letztendlich liefert der digitale Zwilling diesen Einblick mit Präzision und definiert die optimale Anzahl von Aufwärmzyklen vor dem Übergang des Produkts in die Produktion, wie in Abbildung 6 dargestellt.

Abb. 6 Komponenten Aufwärmzyklus © Fill

Im Anschluss an die Kalibrierung des digitalen Modells wurden alle drei Prozessschritte – Schmelzen-Ansaugen, Transport und Schmelzen-Dosierung – erfolgreich anhand von Versuchsdaten validiert. Diese Validierung bestätigt die Genauigkeit und Zuverlässigkeit des digitalen Zwillings bei der Darstellung des realen Systemverhaltens. Abbildung 7, 8 und 9 veranschaulichen die jeweiligen Validierungsprozesse für jeden Prozessschritt und zeigen die enge Übereinstimmung zwischen Simulationsergebnissen und experimentellen Beobachtungen.

Abb. 7 1. Schritt – Schmelz ansaugen © Fill


Abb. 8 2. Schritt – Transport (Robot dynamic)

Weitere Entwicklungen

Mit einem validierten digitalen Zwilling sind wir gut positioniert, um weitere Verbesserungen sowohl im Produktdesign als auch in der Prozessleistung zu erzielen. Gezielte Optimierungen wurden in allen drei Prozessschritten umgesetzt:
■ Ansaugen der Schmelze: Das Vakuum-Kontrollsystem innerhalb des Behälters wurde optimiert, um einen reibungslosen, nicht turbulenten Füllprozess zu gewährleisten. Diese Anpassung trägt dazu bei, die Prozessstabilität aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die vom Kunden vorgegebene Taktzeit einzuhalten.
Transport: Der Pfad des Roboters wurde verfeinert, um Störungen des geschmolzenen Aluminiums auf ein Minimum zu reduzieren. Diese Optimierung verringert das Risiko des Verschüttens von Schmelze (wie in Abbildung 8 dargestellt) und verhindert das unbeabsichtigte Ansaugen von Luft in das System.
Dosierung der Schmelze: Es wurden Verbesserungen an der Geometrie der Füllrohrspitze (Abbildung 10) und an der Drucksteuerung für die Dosierung vorgenommen. Diese Anpassungen zielten darauf ab, während der Dosierphase eine stabile Laminarströmung zu erreichen (Abbildung 9), was zu einem gleichmäßigen und fehlerfreien Guss beiträgt.

Abb. 9 3. Schritt – Dosierung © Fill

Next steps

Ein Schritt nach vorn in unserem Entwicklungsansatz ist die Integration eines Real-time Models, das die Vorhersagefähigkeit des digitalen Modells mit den direkt von der Gießanlage erfassten Live-Daten zusammenführt. Dieses
Real-time Model lernt kontinuierlich aus dem physischen Prozess, so dass es sich an Betriebsabweichungen anpassen und die aktuellen Prozessbedingungen genau wiedergeben kann. Dadurch kann es dem Bediener proaktive Einblicke und Optimierungsvorschläge bieten, die die Entscheidungsfindung verbessern, die Prozesseffizienz steigern und zur allgemeinen Zuverlässigkeit und Robustheit des Produktionssystems beitragen.

Zur Person

Edmundo Oliveira begann 2013 sein Bachelorstudium in Maschinenbau in Brasilien. Parallel dazu arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Metallurgie und Werkstoffe der Escola Politécnica da Univesidade
de São Paulo (USP). Sein Forschungsschwerpunkt lag auf der Untersuchung des Verhaltens von Duplex-Edelstählen unter dynamischer Belastung. 2018 ging er nach Österreich und absolvierte an der FH Oberösterreich (FH Wels) das Masterstudium Automotive Mechatronics and Management. Seine Masterarbeit, die er in Zusammenarbeit mit der Abteilung Forschung & Entwicklung der Fill Gesellschaft m.b.H. verfasste, behandelte das Thema Entkernungsprozesse
bei komplexen Gussbauteilen.
Edmundo Oliveira ist seit 2021 bei Fill in der Produktentwicklung für die Gießereiindustrie tätig. Sein Fokus liegt auf der Erstellung mathematischer Modelle für Produktionsprozesse, der Durchführung von Gieß- und CFD-Simulationen sowie der Entwicklung virtueller Prototypen.

„Gespannt verfolgten wir die ersten Abgüsse des ROBOCAST V in unsere Furanform im Versuchsaufbau. Ich bin fasziniert von der turbulenzarmen Formfüllung und der Reproduzierbarkeit des Gießergebnisses“

Tatjana Schüle – Referentin der Geschäftsführung, Schüle Metallgießerei

„Die Entwicklung der ROBOCAST V Technologie verspricht aus unserer Sicht einen echten Technologiesprung in der Formfüllung von Gussteilen. Wir freuen uns daher, dass wir gemeinsam mit Fill im Rahmen des Projektes AI5Production mit der TestBeforeInvest-Förderung eine Prozessanalyse zur Umsetzung des Verfahrens für den Kundenguss prüfen können. Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit.“

Joshua Bissels, Wirt.-Ing. M.Sc.RWTH (Leiter Innovation und Prozessentwicklung), Pinter Guss