Große Gießereitechnische Tagung 2024 - Plenarvortrag von Zukunftsforscher Franz Kühnmayer

Franz Kühmayer gehört zu Europas einflussreichsten Vordenkern der neuen Arbeitswelt. Er arbeitet als Trendforscher an den maßgeblichsten Think-Tanks der Prognostik und leitet die Unternehmensberatung REFLECTIONS. Er lehrt an mehreren Hochschulen, publiziert regelmäßig und produziert den populären Podcast "Blick nach vorne".

Everything, everywhere, all at once.
Der Titel des Hollywood-Blockbusters ist ebenso programmatisch für den Zustand der Wirtschaft, wie seine Grundkonzeption: Eine Handlung, die durch ein Multiversum voller absurder und phantastischer Elemente navigiert. Genauso geht es mancher Führungskraft in diesen Tagen, eine Krise jagt die andere, alles passiert überall und gleichzeitig. Die Welt ist aus den Fugen geraten, so scheint es. Die unbequeme Wahrheit lautet jedoch: Die Welt ist immer nur kurzfristig scheinbar „in Ordnung“, also in einem übersichtlichen Zustand, der klaren Regeln folgt und stabil ist. In ihrem Wesen ist die Welt das Gegenteil: Sie ist chaotisch, widersprüchlich, heterogen, veränderlich. Und sie wird es auch bleiben.

Zu den unbequemen Wahrheiten gehört aber auch, dass die europäische Industrie vom Wandel besonders stark betroffen ist: Wenn kein Ende geopolitischer Spannungen absehbar ist, leiden exportorientierte Branchen; ein energieintensives Geschäftsmodell, das im Grunde auf der endlosen Verfügbarkeit günstiger Energie fußt, muss sich in Zeiten der Energiewende neu ausrichten; Industrie ist kapitalintensiv, sie ist von langen Lebenszyklen der Anlagen gekennzeichnet und daher strukturell weniger dynamisch als andere Branchen. Die Transformation der europäischen Industrie in Richtung Nachhaltigkeit und Digitalisierung ist eine Mammutaufgabe, und sie wird auch nicht ohne Verluste geschehen. Politisch grundsätzlich günstige Maßnahmen, wie etwa der Green Deal, mögen hilfreich sein, erlösend sind sie schon deswegen nicht, weil auch andere globale Player Packages für ihre nationalen Ökonomien schmieden, so etwa der Inflation Reduction Act der USA, der durch seinen Infrastruktur-Fokus massive Binnenmarkt-Effekte hat.
Es bleibt also fordernd, und doch: Wir leben in wunderbaren, prototypischen Aufbruchzeiten. Genau jetzt zeigt sich gutes Unternehmertum, kompetente Leadership, mutige Führung.

Eine neue Welt entsteht.
Die Erfolgsgeschichte der Globalisierung ist vor allem mit Blick auf die letzten Jahrzehnte beispiellos. Jeder Vergleich von Wirtschaftswachstum und gesellschaftlicher Entwicklung zeigt nach oben, das gilt natürlich besonders für (ehemalige) Schwellenländer, aber auch der reiche Westen und besonders auch Europa blickt auf eine Ära des Aufschwungs zurück. Die Welt heute ist gebildeter, wohlhabender, vernetzter und mobiler als je zuvor.

Es ist aber auch eine Welt voller Herausforderungen. Denn erkauft wurde diese Entwicklung einerseits durch einen massiven Anstieg des Energieverbrauchs und damit auch Schadstoff-Ausstoßes. Um eine Klimakatastrophe abzuwenden ist daher geradezu eine Schubumkehr nötig, in den nächsten 15 Jahren das Absenken auf das Niveau von 1980 und anschließend eine Halbierung binnen der jeweils nächsten 10 Jahre. Ohne dabei auch das erreichte Wohlstands-Niveau auf den Wert von 1980 zurückzustellen.

Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor der Globalisierung ist die dadurch entstandene tektonische Verschiebungen im globalen Machtverhältnis. Aktuell scheint es so, dass autokratische und aggressive Denk- und Handlungsmuster am Parkett der Weltpolitik zunehmen, und Errungenschaften wie Frieden und Demokratie besonders intensiv gefährdet sind. Dabei erleben wir keineswegs das Ende der Globalisierung, sondern bloß das Ende einer naiven, monochromatischen Vorstellung von der Zukunft der Welt. Im Nachlauf des vom Westen „gewonnenen“ Kalten Krieges entstand die geradezu einfältige Illusion, dass damit auch Hegemonie in Wertvorstellungen errungen wurde: Alle Länder würden früher oder später so werden wie „wir“ – aufgeklärt, säkular, liberal demokratisch, kapitalistisch. Und alle werden das auch wollen. Schon alleine im Angesicht einer 5.000-jährigen Geschichte Chinas, das sich selbst nicht nur geografisch als Reich der Mitte sieht, wird die Einfältigkeit dieser Sichtweise deutlich. Im Übrigen erkennen wir in diesem Tagen auch, dass nicht einmal im Inneren unserer eigenen Demokratien Trittsicherheit in diesen Kategorien herrscht. Es gibt also noch viel zu tun, lokal und global.

Wer braucht Europa?
In erster Näherung scheint Europa in einer schwierigen Position zu sein: Der Kontinent ist in allen Schlüsselbereichen abhängig von anderen – egal ob Energie, Rohstoffe, Produktionskapazitäten, Schlüsseltechnologien, Verteidigung, von Autarkie sind wir weit entfernt. Und wir ringen um Lösungen für demographische und politische Herausforderungen. Im Angesicht des Größenvergleichs zwischen Asien und Europa hat die schwedische Wissenschaftlerin Anna Rosling den bemerkenswerten Satz getätigt: „We better be nice“. Es wird jedoch nicht ausreichen, nett zu sein – auch wenn es ein Anfang ist, immerhin.

Nichts wäre allerdings weniger hilfreich, als die selbstgewollte Verzwergung der Perspektive. Der Abgesang auf Europa oder auf Europas Wirtschaft ist töricht, wir müssen tatsächlich aufpassen, dass daraus keine selbsterfüllende Prophezeiung wird.

Europa ist immer noch eine Region, auf deren Errungenschaften die Welt blickt: Eine Wertegemeinschaft, die von Demokratie und Menschenrechten geprägt ist; ein Gesellschaftsmodell, das Freiheit und Verantwortung auszubalancieren sucht; ein Staatswesen, das Solidarität als Grundprinzip hegt; ein Friedensprojekt, das ausgleichend für Stabilität sorgt – und vieles mehr. Selbst, was uns oft als Prügel zwischen die unternehmerischen Füße geworfene Reglementierungswut vorkommt, trägt letztlich über Normierungen und Standards zur Rechtssicherheit bei. Keine andere Region der Welt verfügt über ein dermaßen kompaktes Wertekorsett. Ein fantastisches Sprungbrett für künftiges Wachstum, quantitativ aber auch qualitativ. Aber auch die Verpflichtung zur aktiven Hege und fürsorglichen Pflege dieser Werte. Denn ohne Werte ist Europa Wert-los.

Der Blick nach vorne.
Wenn wir auf dieser Basis eine Perspektive des Wachstums einnehmen wollen, brauchen wir eine Idee, wir auch in Zukunft Wohlstand schaffen und wettbewerbsfähig sein wollen. Und das schaffen wir freilich nicht ohne Industrie, ohne Mittelstand. Die Politik ist national und auf europäischer Ebene gefordert, geeignete Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, das stimmt. Aber auch Unternehmen sind in der Verantwortung – ein Beispiel: Der F&E Anteil in der EU betrug im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts (2000-2009) 1,82%, und liegt nun bei 2,24%. Nicht nur ist der Anstieg geradezu lächerlich, es ist auch das Gesamtniveau beklagenswert niedrig. Ein Drittel der Unternehmen mit den weltweit höchsten F&E-Ausgaben sitzt in den Vereinigten Staaten, Deutschland stellt gerade einmal sechs Prozent der Top-Innovatoren. Ergebnis: Im Wettlauf um die innovativsten Lösungen droht Europa ins Hintertreffen zu geraten. Das muss ein Weckruf für jedes Unternehmen sein, die eigene Innovationsbereitschaft kritisch auf den Prüfstand zu stellen. Sich stets auf die Politik oder „die EU“ auszureden, wäre unlauter.

Die Gussindustrie spielt in den entscheidenen Zukunftsthemen eine wesentliche Rolle: Vom Windrad bis zur Phovoltaik, von Turbinen bis zur Medizin, all das wäre ohne Gussteile nicht vorstellbar. Hinzu kommt: Gießen ist im eigentlichen Sinne der Prototyp der Kreislaufwirtschaft. Die Grundlagen sind also gelegt, nun gilt es, in Materialen, Verfahren, Produktion, Lösungen Zukunftssicherheit zu erlangen.

Wandel entsteht, wenn externe Veränderungsimpulse mit innerer Transformation verschränkt werden. Dazu braucht es Kreativität, Innovation, persönliches Wachstum, Freiraum, Lernen. Man sagt, die besten Krisen löst man selbst aus – mit Blick auf die Welt muss man konzidieren: Dafür ist es vielleicht schon ein wenig spät. Aber wenn wir den Krisen der Zeit richtig zuhören, geben sie uns Hinweise auf das nächste Zeitalter. Wir erleben Umformungen, und das bedeutet, auch wir müssen uns umformen. Dafür braucht es den Dreisprung aus Wollen – also Innovationsbereitschaft; Können – einer Frage der Kompetenzen und Skills; und schließlich Dürfen – im Sinne von Unternehmens- & Führungskultur.

Strategische Eckpfeiler für die europäische Industrie
Neben der bereits angesprochenen Innovation, die an erster und oberster Stelle für die Sicherung der Zukunftsperspektiven zu nennen ist, ist das auch damti verknüpfte Vorantreibenm der Digitalisierung vorrangig. Und zwar nicht nur auf der Anwender-Ebene, sondern vor allem auch in der Entwicklungssicht.

Diese Kombination trägt dazu bei, auch in Zukunft hochwertige Produkte anzubieten. Soll nämlich die Seidenstraße keine Einbahn werden, müssen wir selbst Güter auf unserer Fahrbahn auf den Weg bringen. Chancen dazu bieten sich sowohl global, denn die aufstrebenden Nationen erzeugen naturgemäß erhöhte Konsumnachfrage – aber auch lokal: Die Standortnachteile Europas, etwa eine fragmentierte und veraltete Energie- und Verkehrsinfrastruktur sind Grundlagen für neue, innovative Lösungen.

Und schließlich liegt es auch im europäischen Gedanken, industrielle Partnerschaften und Ökosysteme zu errichten und zu pflegen, sowohl auf der gegenständlichen Ebene, etwa im Bereich verschränkter Wertschöpfungsketten, aber auch im ideellen Bereich, wenn es um Qualitätsstandards geht.

The Possibilist Mind
Wer als Unternehmer:in in diesen fordernden Zeiten nicht auch wunderbare Gelegenheiten für qualitatives und quantitatives Wachstum sieht, ist gut beraten, nochmal genauer hinzuschauen. In jedem Fall dürfen wir uns alle von der engstirnigen Zuspitzung zwischen untergangsfürchtigem Pessismus und rosa bebrilltem Optimismus befreien, und statt dessen Possibilisten werden: An Möglichkeiten glauben und Möglichkeiten selbst schaffen. Denn die Frage, ob ein Glas halbvoll oder halbleer ist, hat nur für Menschen Bedeutung, die nicht daran glauben, dass man nachgießen (sic!) kann.